Interview: Wie meistern Paare Ausnahmesituationen?

von | Mai 12, 2020

In Krisensituationen ist Zusammenhalt umso wichtiger denn je. Mit Covid-19 sind Familien und Generationen das erste Mal von solch einer Situation betroffen. In all der Ungewissheit, dürfen wir nicht vergessen uns auf die richtigen Fragen zu konzentrieren: „Wie schützen wir Mitmenschen? Sowohl Risikogruppen als auch unsere Kinder?“

Für den Online-Corona-Kongress hat Paarberater Ralph Piotrowski die Frage beantwortet, wie Partner*innen und Familie heil durch den Alltag kommen.


Ralph Piotrowski stellt sich vor

Interviewerin: Herzlich Willkommen, wir sprechen heute mit Dr. Piotrowski. Schön, dass Sie da sind und dass Sie sich die Zeit genommen haben. Sie sind unter anderem Paartherapeut und wir haben Sie eingeladen, weil wir glauben, dass es natürlich im Moment, aktuell in der Situation, viele Paare gibt, die wahrscheinlich immer wieder die gleichen Probleme haben und viele Leute auch durch die Krise gehen. Deswegen sind wir auch ganz gespannt mit Ihnen sprechen zu können, um sie ein bisschen nach Ihrer Meinung und Ihrer Erfahrung zu befragen. Vielleicht können Sie sich ganz kurz vorstellen und ein paar Worte zu dem sagen, was sie in Ihrer Praxis machen und anbieten.

Ralph Piotrowski: Ich bin Ralph Piotrowski, ich bin Paartherapeut. Ich arbeite hier in meiner Praxis mit sehr unterschiedlichen Paaren zu sehr unterschiedlichen Fragestellungen. Ich bin auch Organisationsberater bei SOCIUS Organisationsberatung und arbeite viel mit Gruppen und Konflikten und schwierigen Situationen in Teams. Eine Sache, die immer wieder auftaucht, ist der Umgang mit Emotionen, emotionale Selbstbestimmung – Wie können wir eigentlich so einen Handlungsspielraum erweitern?

Wie wirkt sich Covid-19 auf eine Beziehung aus?

Interviewerin: Mit Emotionen haben wir eigentlich alle zu tun. Davon können wir uns nicht befreien,  das ist ja auch relativ menschlich. Was im Moment besonders im Fokus und für viele Paare besonders schwierig ist, sind vor allem Familiensituationen, auch vor allem Situationen mit Kindern in der aktuellen Krise. Was sind Ihre Erfahrungen oder mit welchen Themen haben Sie zu tun, wenn Familien oder Paare aktuell zu Ihnen kommen und Hilfe suchen?

Ralph Piotrowski: Meine Erfahrung ist, dass es in der Coronakrise unterschiedliche Hintergründe gibt. Es gibt Menschen, die mehr Zeit haben, mehr zuhause sind, die existentiell gar nicht bedroht sind, wo es eher eine Lebensumstellung ist. Und andere Menschen, bei denen es dann eher so ist, dass sie in sehr starken Stresssituationen sind, wo sie sehr schwierige Entscheidungen treffen müssen. Oder Leute, die selber gesundheitlich betroffen sind oder noch existenziellere Themen eine Rolle spielen. Die Betroffenheit ist erstmal auf sehr unterschiedlichen Ebenen da.

Die meisten Leute, mit denen ich zu tun habe, sind Menschen, die zuhause sind, an einen familiären Kontext gebunden sind, von zuhause arbeiten oder bei denen sehr viele Aufträge weggebrochen sind, wodurch sich ihr Lebensumfeld komplett verändert hat. 

  • Was heißt das für Kinder?
  • Was heißt das für Familie?
  • Was heißt das für das Zusammenleben?

Meine Erfahrung ist, dass es erstmal nicht so Unterschiedliches in den Grundthemen ist, sondern dass es wie so ein Brennglas ist, das die vorhandenen Themen deutlich macht und verschärft. Gleichzeitig ist es nicht nur eine Schwierigkeit, für viele ist es auch eine Chance. […] Gerade auch für Paare, je nach deren Situation, gibt es auch die Gelegenheit, mehr spontane Zeit miteinander zu verbringen. Und je nachdem, auf welchem Weg man ist, verstärkt es auch die Grunddynamik der Paare, würde ich sagen.

Es gibt Paare, die sind auf einem gemeinsamen Entwicklungsweg. Die erfahren es als sehr positiv, was gerade passiert, weil sie mehr Zeit haben, mehr Zeit für Reflektion, mehr Zeit für spontane Begegnungen und auch für das gemeinsame Umgehen mit Problemen.

Bei Paaren, die gerade sowieso Probleme miteinander haben, wo viel gegenseitiges Fingerzeigen ist […], für die ist die Drucksituation schwerer.

Existenzkrise in einer Ausnahmesituation

Interviewerin: Ich würde gerne mit Ihnen ein paar Szenarien durchgehen, weil es, wie Sie gesagt haben, immer unterschiedliche Situationen gibt. Angenommen die Situation, in der die Familie von der Existenz bedroht ist. Das ist was, was unsere Generation wahrscheinlich kaum kennt. Wir sind in einem Land mit sehr viel Sicherheit groß geworden und wir waren vor jeglichen Krisen geschützt. Und jetzt kommt aufeinmal sowas, womit man überhaupt nicht gerechnet hat. Was ist Ihr Ansatz oder was können Sie denen, die gerade in so einer Situation sind, mitgeben? Wonach sollten die Leute schauen, um damit bestmöglich umzugehen?

Ralph Piotrowski: Es ist eine sehr globale Fragestellung, existentiell bedroht zu sein. Ich glaube, auf der Ebene ist es schwierig eine Antwort zu finden. Man müsste sehr spezifisch schauen.

  • Wie ist denn die Ausgangssituation?
  • Ist es ein Wahrnehmungsproblem?
  • Stehen mehr Ängste im Vordergrund, die real vielleicht gar nicht so begründet sind aufgrund der sozialen Hilfsmaßnahmen und des sozialen Umfelds, in das die meisten eingebettet sind?
  • Oder ist es tatsächlich eine gesundheitliche Gefährdung, also unmittelbar existenzbedrohend?

Da geht es darum, eine Perspektive zu finden und nicht abzugleiten in eine Situation, bei der man wie ein Kaninchen vor der Schlange steht und in eine Lähmung gerät, sondern zu analysieren, was jetzt tatsächlich schwierig wird und welche Handlungsoptionen es gibt und welche Ressourcen man hat. Vielleicht gibt es dann doch noch mehr Ressourcen als man in dem Moment sieht, sei es an potenzieller Unterstützung im Umfeld, sei es an Hilfsmöglichkeiten, die man wahrnehmen kann. Gerade jetzt in dieser Zeit gibt es sehr viele Hilfsmöglichkeiten, die kostenlos zur Verfügung gestellt werden, es gibt sehr viel Solidarität, es gibt sehr Viel Unterstützung in der Nachbarschaft und im Freundeskreis. Ich glaube dieses Gefühl: “Ich stehe alleine da” zu unterbrechen und zu merken: “Nein, wir sind nicht allein! Wir können fragen und wir bekommen auch Unterstützung!”, ist entscheidend.

Wenn plötzlich beide Eltern die Kinder betreuen

Interviewerin: Dann gibt es aber auch noch das Szenario, dass beide einen Job haben, normalerweise viel beschäftigt und oft außer Haus sind. Doch auf einmal befinden sie sich in der Situation, dass beide zuhause sind und den ganzen Tag Kinder betreuen. Wie wirkt sich das auf die Beziehungsdynamik aus? Haben Sie auch Erfahrung, wie man das vielleicht entzerren kann, wenn es jetzt gerade nicht so eine Beziehung ist, wo es so gut funktioniert?

Ralph Piotrowski: Im ersten Schritt wird das verstärkt, was da war. Wir fallen in der Situation verstärkt auf unsere alten Muster zurück. Wir haben unterschiedliche Coping-Mechanismen. – Wie gehen wir mit Problemen um? Und das wird erstmal sichtbarer. In diesem Sichtbarwerden steckt auch eine Chance, weil man mehr über sich selbst erfahren kann. Diese Beobachtung, wie man eigentlich funktioniert, und Wahrnehmung, was in einem passiert – darin steckt eine große Chance. Das ist gerade sehr sichtbar und sehr im Vordergrund.

Der erste Schritt, der da wichtig ist, ist ein liebevoller Umgang mit sich selber. Also da hinzuschauen und zu merken: “So geht’s mir und es ist okay, dass es mir so geht. Es ist auch okay, dass ich gestresst bin, es ist auch okay, dass ich sozusagen meinen Ansprüchen gerade jetzt nicht gerecht werde.” Entscheidend ist, diese Nachsicht erstmal für sich selber einzuüben und dann auch für die Partner*in.

Was die Situation auch ermöglicht, besonders wenn Streit sehr persönlich und zu Herzen genommen wird, ist die berechtigte Schuldabstreitung. Wahrscheinlich ist es gar nicht der andere oder man selbst, sondern die allgemein schwierige Situation, die sich auswirkt und es erscheint einem nur so, dass die Partner*in das Problem ist.

Auch sollte man schauen, wie man die Situation entzerren und organisieren kann, weil es häufig ein bisschen eng wird und man häufig keinen Raum mehr für sich selbst hat. In Paarsituationen ist ein großer Shift hin zum Gefühl der gemeinsamen Situationsbewältigung empfehlenswert. Es ist eine schwierige Situation, die sich Paare nicht gegenseitig zum Vorwurf machen sollten. Vielmehr sollten Paare in der Situation sich gegenseitig den Rücken stärken, anstatt die Energie gegenseitig zu erodieren. Natürlich passiert es auch immer wieder, dass Paare in den Streit kommen. Aber das ist in Ordnung, auch das darf sein. Es wäre übermenschlich, wenn das nicht passiert. Paare müssen nur schnell wieder zurückkommen, um das wieder besprechbar zu machen. 

Ganz praktisch ist gerade, was sehr viele Menschen tun und auch schlau ist in der Situation, eine diszipliniertere Tagesstrukturierung, diese gemeinsam zu besprechen und so eine Verlässlichkeit im Tagesablauf herzustellen – vor allem Verlässlichkeit darüber, wann man Zeit für sich selbst hat. So kann man das Andere, was anstrengender ist, viel besser ertragen, wenn man weiß, dass man beispielsweise am Abend zwei Stunden hat, um sich hinzulegen, eine Serie zu schauen, joggen zu gehen, ohne sich vielleicht mit den Kindern beschäftigen zu müssen. Jesper Juul, ein Familientherapeut, hat mal gesagt:

Den Kindern kann es nie besser gehen als den Eltern.

Jesper Juul, Familientherapeut

Ich finde, es ist ein sehr wahrer Satz, zu sagen, dass erstmal die eigene Basis gestärkt werden muss, um daraus dann agieren und für die Anderen da sein zu können.


Teil #2 des Interviews finden Sie im Beitrag: Wie verhalten wenn Partner*innen sich distanzieren„.

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